Literaturnobelpreis 1980: Czesław Miłlosz

Literaturnobelpreis 1980: Czesław Miłlosz
Literaturnobelpreis 1980: Czesław Miłlosz
 
Der Amerikaner erhielt den Nobelpreis dafür, dass er mit »kompromissloser Klarsicht der gefährdeten Stellung des Menschen in einer von schweren Konflikten geprägten Welt Ausdruck verleiht«.
 
 
Czesław Miłosz, * Seteiniai (Litauen) 10. 6. 1911; erlebte seine frühe Kindheit im zaristischen Russland, Besuch der Schule im polnischen Wilna und später dort Debüt als Lyriker, 1951 Emigration nach Frankreich und 1960 Übersiedlung in die USA, dort Lehrtätigkeit als Slawistik-Professor in Berkeley, seit den 1990er-Jahren Wohnsitz in Berkeley und Krakau.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Als Miłosz im Herbst 1980 den Nobelpreis für Literatur erhält, steht Polen an der Schwelle eines gewaltigen politischen Umbruchs, der aus heutiger Sicht den Beginn des Zusammenbruchs des kommunistischen Regimes in Osteuropa bedeutet. Die Auszeichnung wurde im damaligen Solidarnonoš;č-Polen und auch im Westen als politisches Signal verstanden. Sie galt aber auch und vor allem einem Dichter, dessen Werk zu den großen dichterischen Leistungen des 20. Jahrhunderts gehört. Obwohl im Westen in den 1950er-Jahren zunächst als tief- und scharfsinniger Essayist bekannt geworden, der die alte, reiche, jedoch in den verschiedenen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts zerstörte Welt Polens und Litauens erstehen ließ (»West und östliches Gelände«) und das innere System des realen Sozialismus nach 1945 beschrieb (»Verführtes Denken«), ist Miłosz in erster Linie Dichter. Im Schatten des polnischem Nationalismus der Zwischenkriegszeit, später angesichts zweier totalitärer Systeme (Faschismus und Stalinismus) und schließlich angesichts der neuen amerikanischen Welt legt er für bald 70 Jahre den Lebensentwurf eines stets selbstständigen Dichters vor.
 
 Miłosz und die »Ismen« des 20. Jahrhunderts
 
Der Anfang verbindet sich mit Wilna, der einstigen Stadt der Romantik, und nicht mit Warschau, Zentrum der neuen polnischen Literatur nach 1918, die alles Alte über Bord werfen wollte. Miłosz ahnt bereits die Tragödie, die von West und Ost in Polen herannaht. Dieser katastrophistische Dichter im Jerusalem des Nordens, wie man Wilna wegen seiner blühenden jüdischen Kultur einst nannte, ist gefeit gegen die Versuchung des polnischen Nationalismus, der jetzt seine antisemitische Fratze zeigt, und glaubt bereits nicht mehr an die lichte Zukunft, die der stalinistische Kreml allen politisch Suchenden der Welt verspricht.
 
Die historische Prüfung von faschistischer Zerstörung und kommunistischem Neubeginn besteht Miłosz in Warschau. Die Apokalypse ist im zerstörten Warschau eingetroffen, aber das dichterische Wort ist geblieben, und es versteht sich fast von selbst, dass ein so erprobtes und eigenes Wort nicht in die fremde Rede des kommunistischen Polen nach 1945 einstimmen konnte. Miłosz' Kriegs- und Nachkriegslyrik ist frei von Märtyrerverehrung, ist aber auch keine Stimme der Stunde null, und dem verführerischen Optimismus des kommunistischen Neubeginns widersteht sein waches analytisches Denken. Das aufgeklärte 18. Jahrhundert wird für den gefährlichen Dialog Miłosz' mit der modernen Macht jetzt wichtiger als die in Polen immer sich anbietende romantische Haltung. Die Lyrik nähert sich jetzt der diskursiven Darstellung. Miłosz wird in seiner Position des Außen durch seine Biografie bestärkt. Er ist nach dem Krieg im diplomatischen Dienst, zunächst in Amerika und später in Frankreich tätig, und entscheidet sich 1951 zum Schritt der Emigration.
 
 Emigration und internationaler Durchbruch
 
Der verspätete Emigrant wird von seinen Landsleuten zunächst misstrauisch aufgenommen. Das Werk, das er in ungebrochener Produktivität vorlegen wird, bricht denn auch die Erwartung der Emigration. Es ist immer mehr als nur Klage und Anklage des Vertriebenen. In die alte Welt der litauischen und polnischen Erinnerung strömt jetzt auch die neue Welt, die moderne Zivilisation, die das aktuelle Amerika jetzt für die Welt entwirft. Die Erinnerung wird aber bleiben und mehr werden, je älter der Dichter wird. Vom Dichter der Emigration erwartet man indes nicht nur das lyrische Wort, das ist und sich nicht erklären muss, man erwartet von ihm Deutung der Welt und politisches Bekenntnis. Czeslaw Miłosz hat als Essayist nicht nur lange vor der russischen Dissidenzliteratur das System des realen Sozialismus beschrieben, sondern in »Verführtes Denken« vor allem auch das Verhältnis von Macht und Literatur, genauer der Mächtigen und der Schriftsteller, zu Ende gedacht. Die Analyse der politischen Vergangenheit stand am Anfang, das Nachdenken über die Literatur, über das literarische Erbe und über die Rolle des Dichters (»Das Land Ulro«) hat nie aufgehört, ihn zu beschäftigen.
 
Der internationale Durchbruch gelingt Miłosz nach seiner Emigration nicht sofort, sondern erst in mehreren Schritten. Entscheidend für den Weg zum Erfolg ist der Wille, sich nicht von der engen Lese-Erwartung der polnischen Emigranten, sondern eines allgemeinen, vor allem westeuropäisch-amerikanischen Publikums leiten zu lassen. Europa und Deutschland insbesondere haben ihn früher als Amerika erkannt, der Schritt zum Nobelpreis bereitet aber die Anerkennung, die er in den 1970er-Jahren auch in Amerika erhielt, vor. Miłosz wird sich nach der internationalen Anerkennung aber nicht als Verwalter seiner bisherigen Leistung verstehen, sondern als 70jähriger eine neue produktive Phase in seinem Werk eröffnen.
 
Die gewaltigen politischen Veränderungen in Polen in den 1980er- und 1990er-Jahren bedeuteten für die durchgehende Position der Distanz bei Miłosz gegenüber der einstigen nationalen und späteren Emigrationserwartung eine letzte große Herausforderung. Die Erwartung der Weltöffentlichkeit vereint sich mit der Erwartung der Heimat, die sich nach 1980 immer unbedingter stellte. Miłoszs Verse standen während den ganzen 1980er-Jahre auf dem Denkmal vor der Werft in Danzig, als Polen darauf wartete, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Der Dichter widersteht aber der Versuchung, Gewissen des Volkes zu werden und damit ein Amt zu übernehmen, das, wie viele Beispiele es belegen, die Dichtung zerstört. Die andere Lebenserfahrung des Alters schafft hier auch eine neue Distanz und größere Offenheit. Das lyrische Polen hat im 20. Jahrhundert nicht nur die Verbindung zur Dichtung im alten Sinne bewahrt, sondern mehrfach vorgeführt, wie das Alter neben der Jugend seine eigene lyrische Stimme besitzt. Sie ist eine ganz andere, schaut zurück und wenn sie nach vorne schaut, weiß sie:
 
»Ich liebte es einst auch in den Spiegel zu schauen / Bis ich mich überzeugte, was es bedeutet, den Weg allen Fleisches zu gehen. Umsonst ist der Protest. Die alten Leute wissen, warum sie verstummen.«
 
Im Jahr 2000 gibt Miłosz einen Lyrikband mit dem knappen Titel »Das« heraus.
 
Die deutsche Rezeption hat seit den 1950er-Jahren die Entwicklung Miłosz' zwar stets begleitet, aber ist in Bezug auf den Lyriker vergleichsweise schmal. Die Ausgabe beschränkt sich auf den sehr verdienstvollen, aber zu dünnen Band in der polnischen Bibliothek (»Gedichte«, 1982). Miłosz ist aber ein Dichter, dessen Größe sich uns erst in seiner Breite enthüllt, im ruhigen Lesen von Band zu Band, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.
 
Miłosz hat nicht nur eine Biografie — die Biografie eines Dichters im 20. Jahrhundert —, er hat auch eine Poetik, die ihn nie verließ. Sie identifiziert sich mit keinem Ismus des 20. Jahrhunderts und steht dessen Lieblingskind, der Avantgarde, fremd gegenüber, greift aber auch nicht, wie es sich für einen Polen geziemt, ausweichend auf die Romantik zurück. Fundament für Miłosz bleibt bis heute der Vers, der denkt, auch wenn er in die Abgründe der Existenz steigt und ihre metaphysische Verankerung zu beschreiben sucht.
 
G. Ritz

Universal-Lexikon. 2012.

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